Grenzfluss
Beni Schubert
Über die Grenze
Eine Nebelbank lag über dem Grenzfluss Minho, als wir ihn vor ein paar Jahren einmal mit der Fähre von Portugal nach Spanien überquerten. Das verlieh der Überfahrt einen ganz besonderen Zauber – und prägte sich mir zugleich als Bild ein, an das ich mich in dieser Zeit des Jahres oft erinnere. Denn in diesem letzten Abschnitt des Kirchenjahrs, bevor mit dem 1. Advent dann das neue beginnt, denken wir als Christinnen und Christen an «die letzten Dinge», an den Übergang aus dem, was wir kennen, ins «Jenseits», in Unbekannte, ins Geheimnis Gottes. Der November beginnt für die katholische Kirche mit Allerheiligen und Allerseelen; er endet für die protestantischen Kirchen mit dem Ewigkeitssonntag.
Unsere Enkeltochter singt – gegebenfalls auch beim Besuch des Affenhauses im Basler Zolli – mit Begeisterung «Der Mond ist aufgegangen», jedenfalls die zwei, drei Zeilen, die sie schon kann. Beim Einschlafen will sie es gerne ganz vorgesungen haben, auch die nachdenkliche Strophe über unsere Sterblichkeit: Wollst endlich sonder Grämen / aus dieser Welt uns nehmen / durch einen sanften Tod; und wenn Du uns genommen, / lass uns in Himmel kommen, / Du unser Herr und unser Gott.
Was wird sie damit einmal anfangen können, wenn sie einmal eine junge Frau sein wird? Sie wächst in einer Welt auf, in der vieles von dem fragwürdig geworden ist, was für die Generation unserer Eltern und Grosseltern noch liebe und vertraute Inhalte des Glaubens waren. Viele haben sich im Gegenteil in einer rein diesseitigen Welt eingerichtet. Es ist zur ganz offenen Frage geworden, «…wo die Frommen / dann sollen hinkommen, / wenn sie in Frieden / von hinnen geschieden / aus dieser Erde vergänglichem Schoss.» Manche finden sogar, diese Frage sei überhaupt ganz irrelevant, andere denken (erleichtert oder etwas betrübt), dass wir darauf keine Antwort finden und geben können.
Frühere Generationen sprachen schon davon, dass wir im Tod einen Fluss überqueren. Doch schien das andere Ufer noch erkennbar: Es lag schliesslich im Licht des göttlichen Glanzes, beschienen von der aufgehenden Sonne am Ostermorgen. Doch nun hat sich eine Nebelbank über den Fluss gelegt, und wir können das andere Ufer nicht mehr sehen, geschweige denn mit Sicherheit von dem reden, was wir dort antreffen.
Damit wird der Glaube noch «nackter». Wir wissen, dass wir nur unzulängliche Bilder haben, um von dem zu reden, was uns erwartet. Doch den Glauben lassen wir uns nicht nehmen, sondern halten tröstlich und getröstet daran fest: Gott selbst erwartet uns. Jesus ist vorausgegangen. In ihm und durch ihn bleiben wir im Leben, auch wenn wir sterben.
Wenn ich Menschen beim Abschiednehmen begleiten soll, bete ich manchmal mit dem Worten, die ich mir von einer mit der Iona Community verbundenen, mir sonst unbekannten Jan Sutch Prichard leihe:
Du Gott von allem, was ist,
unsere Grenzen können Dich nicht fassen,
unsere Definitionen Dich nicht begreifen.
Licht bist Du von jenseits aller Galaxien,
ein Meer ohne anderes Ufer.
Du bist an jedem Ort,
in jedem Moment der Geschichte,
Du bist jetzt und hier da.
Hilf uns,
dass wir heute wissen,
dass die, von denen der Tod uns trennt –
durch sein langes Schweigen,
den Schmerz, den die Abwesenheit verursacht ¬
dass sie alle bei Dir sind,
dass sie jenseits unserer Horizonte,
jenseits unserer Grenzen,
jenseits unseres Verstehens,
bei Dir angekommen,
von Dir gehalten sind
durch Jesus Christus,
unseren Bruder und Heiland.
Amen
Beni Schubert