Draussen: Die jüdischen Oberen verlangen den Tod von Jesus (18,28-32)
Die Juden kommen nicht ins Pretorium hinein, weil sie sonst unrein würden. Sie könnten dann das Passalamm nicht essen. Dass Pilatus zu ihnen herauskommt, ist schon erstaunlich. Es zeigt, dass er den Frieden wahren will. Er stellt eine erste Frage, die nach der Anklage. Die Antwort ist unklar. Klar ist nur: Er soll sterben
Drinnen: Pilatus befragt Jesus nach seinem Königtum (18,33-38a)
Pilatus, der grosse Fragende: Bist du der König der Juden? Bin ich denn ein Jude? Was hast du getan? Also bist du doch ein König? Was ist Wahrheit? Wollt ihr, dass ich euch den König der Juden freilasse?
Im Verhör, das Pilatus höchstselbst führt, spiegelt sich die menschliche Unmöglichkeit, in Jesus den Sohn Gottes zu erkennen. Das erkennt nur, wer von „neuem geboren wurde“. So sagt’s Jesus dem Nikodemus (Johannes 3,5). Die ganze Szene mit Pilatus müssen wir umgekehrt verstehen: Es sieht zwar so aus, dass Jesus angeklagt und verurteilt wird; in Wahrheit geschieht aber in diesem Moment das Gericht über die Welt, die nicht verstehen kann, wer Jesus ist. Man spricht darum auch von der „Ironie“ bei Johannes (Alan Culpepper). Die verkehrte Welt ist die Welt des Pilatus, die auf römische Macht setzt; auf Brutalität und das Recht des Stärkeren. Die richtige Welt ist „nicht von dieser Welt (36)“, denn sie umschliesst alles und trägt alles.
Diese Ironie bündelt sich in der Frage „was ist Wahrheit?“ Wir wissen, weil wir das Evangelium bis hierher gelesen haben, dass Jesus diese Wahrheit ist. Pilatus hat zu ihr keinen Zugang. Er begreift es nicht. Die Wahrheit steht vor ihm, aber er kann sie nicht sehen.
Draussen: Pilatus meldet, dass Jesus unschuldig ist (18, 38b – 40)
Nach römischen Recht gibt es keinen Grund, Jesus zu verurteilen. Pilatus spricht im Grunde genommen sein Urteil. Ein Dialog ist aber nicht mehr möglich. Der Hass ist so gross, dass nur noch geschrien werden kann. Als LeserInnen verstehen wir spätestens jetzt, dass die Sache verloren ist. Wo nicht mehr zugehört wird, gibt es keine Lösungen mehr. Weshalb Pilatus der Sache hier nicht ein Ende macht und Jesus gehen lässt, zeigt dass er entweder ein Schwächling ist oder ein Zyniker, der seine Ruhe haben will. Ich neige zur zweiten Annahme. Die Geste einer Amnestie zum Passafest zeigt, dass Pilatus sich mit den lokalen Behörden in gutes Einvernehmen setzen will.
Der Name Barrabas ist aramäisch und heisst „Sohn des Vaters“.
Drinnen: Die Soldaten machen Jesus fertig (19, 1-3)
Das ist eigentlich gegen das Recht, aber da Jesus kein Römer ist, kann Pilatus machen, was er will. Dass Jesus gefoltert wird, soll wiederum die Menge beruhigen. Es geht aber noch um mehr: als das Evangelium geschrieben wurde, hatten die Christen bereits erste Erfahrungen gemacht mit Verfolgungen. Im Spott und Hohn sehen sie ihre eigene Situation widerspiegelt.
Draussen: Pilatus sagt erneut, dass Jesus unschuldig ist (19, 4-7)
Jesus wird vorgeführt. Das ist die völlige Erniedrigung, die er hier erlebt. Arnold Stadler übersetzt so Psalm 31: nun können sie alle über mich lachen! Eine Witzfigur für die Nachbarn, ein Schreckgespenst für die Freunde. Eine Vogelscheuche: Wer mich zu sehen bekommt, fliegt davon.
Auch in dieser Szene spiegelt sich eine menschliche Grunderfahrung: Ich werde blossgestellt. Ich habe keinen Raum, um mich zurückzuziehen, wo ich sicher bin.
Seht, da ist der Mensch! Dieses ecce homo wurde in der Kunst oft dargestellt. Als Erniedrigter ist Jesus Mensch. Das ist für Johannes zentral. Man warf Johannes immer mal wieder vor, dass er Jesus abgehoben darstellt. Diese Szene widerspricht. Jesus ist ganz Mensch, sein Leiden ist echt und keine Show.
Johannes erzählt, Pilatus sei „noch ängstlicher“ geworden. Worin war seine Angst begründet? Durch den Mob vor der Türe? Oder weil er um seine Autorität fürchtete? Oder beginnt Pilatus zu ahnen, dass er es hier mit jemandem zu tun hat, der eine ausserordentliche Autorität hat, die er nicht hat und nicht kennt und nicht versteht? Wir erinnern uns an die Dämonen in den anderen Evangelien, die vor Jesus kuschen. Johannes kommt in seinem Evangelium ohne Dämonen aus. Ihm genügen die Menschen dieser Welt.
Drinnen: Pilatus fragt Jesus nach seiner Herkunft (19,8 – 11)
Wieder stellt Jesus die Welt vom Kopf auf die Füsse. Pilatus ist Gouverneur von Gottes Gnaden. Die Schuld, ihn ausgeliefert zu haben (Judas, die jüdische Obrigkeit) besteht darin, das nicht verstanden zu haben. Gott sitzt im Regimente (Barth).
Draussen: Pilatus übergibt Jesus den Henkern (19,12-16)
Noch einmal versucht Pilatus, Jesus freizulassen, scheitert aber an der aufgebrachten Menge. Sie setzen ihn unter Druck mit einem fiesen Argument: Wenn Du ihn freilässt, handelst Du gegen Rom. Pilatus muss die Denunzianten fürchten. Gipfel der Ironie ist, dass sich Pilatus auf den Richterstuhl setzt. Der die Welt richtet, soll gerichtet werden. Es ist ein letztes Bild der verkehrten Welt, in der wir alle leben, in der sich aufspielt, was doch aus sich nichts ist.
Das Hin und Her bei Pilatus II
Die ganze Szene, deren ZeugInnen wir werden, beschreibt den Gegensatz zwischen unserer Welt mit ihren Gesetzen, mit ihren Hierarchien und ihren Idealen und der Welt Gottes, in der vollkommen andere Gesetze herrschen. Jesus beschreibt die neue Welt Gottes in seinen Abschiedsreden (14-17), die die Hörerinnen und Hörer des Evangeliums soeben gehört haben. Die Szene im Palast des Pilatus steht für das Gericht, die endgültige Entscheidung für oder gegen Jesus. Dass die Entscheidung nicht in unserer Macht steht, führt Pilatus vor. Jesus jedenfalls kann am Schluss am Kreuz sagen: „es ist vollbracht“. Es ist der Schlusspunkt unter seinen Rechenschaftsbericht in den Kapiteln 14-17. In 17, 4 sagt er: „Ich habe das Werk zu Ende geführt, das du mir aufgetragen hast“.
Pilatus steht für den inneren Konflikt, den viele erleben in ihrem Glauben. Wir sind Teil dieser Welt; wir ringen mit unseren Chefinnen und schwitzen bei der Steuererklärung; wie fragen uns, ob wir das Rotlicht beachten sollen und haben doch die grosse und grosszügige Welt Gottes geschmeckt, in der es keine Idioten mehr gibt und keine Schnäppchen, denen wir nachrennen müssten und vor allem keine Gelegenheiten, die wir verpassen könnten. Die Zerrissenheit des Pilatus ist fast körperlich spürbar; wie er ahnt, dass Jesus etwas Besonderes ist; wie er realisiert, dass es für eine Verurteilung einfach nicht reicht; wie ihm die frommen Fanatiker vor der Türe echt den letzten Nerv rauben und da doch die Angst ist, es jetzt nicht zu vermasseln, um seine grossartige Karriere in Rom nicht aufs Spiel zu setzen.
Es ist diese Pilatus-Zerrissenheit, die wir als Christinnen und Christen erleben, wenn wir vor wichtigen Entscheidungen stehen, bei denen wir im Grunde genommen wissen, was richtig ist, aber hadern, weil die Alternative so viel attraktiver oder lukrativer oder lustvoller ist.
Ecce Homo
Darum ist dieses „ecce homo“ zentral: Jesus, der als Verspotteter vor die Menge tritt. Sie zeigt uns, was es Gott gekostet hat, den Weg freizuräumen von all dem Schutt + Geröll, das sich zwischen ihn und uns geschoben hat. Im Blick auf ihn erhält alles seine wahre und richtige Grösse. Dieser Blick ist das Ende des Bluffs. Es wundert nicht, dass starke Kräfte versuchen, diesen Blick zu verschleiern und zu trüben, denn in ihm erkennen wir uns selbst. Wir erkennen, dass das, was die Welt des Pilatus ausmacht, keinen Bestand hat und nicht trägt. Was Bestand hat und trägt, ist das, was vom Himmel kommt, um es mit einem Bild zu sagen, das Johannes gerne braucht. Es ist die neue Welt Gottes mit Gesetzen, die mich atmen lassen, mich befreien von allem möglichen Druck und die mir klarmachen, dass ich ein Kind Gottes bin.
Karfreitag 2021/Heiner Schubert