Rituale

Beni Schubert

Eine amüsante und gleichzeitig beunruhigende Leseerfahrung

Ich fand auf der Uni-Bibliothek, wo ich mich eben nicht nur mit wissenschaftlichem Lesestoff versorge, den Roman «The Startup Wife» der in Bangladesch geborenen britischen Autorin Tahmima Anam. Die Ich-Erzählerin, die «Startup-Frau», ist Asha. Sie könnte von der Beschreibung her eine Schwester der Autorin sein. Doch Asha ist eine hochbegabte Programmiererin. Zusammen mit ihrem Ehemann Cyrus und dessen Freund Jules entwickelt sie eine App, die Menschen miteinander in Verbindung bringen will über das, was in ihrem Leben Bedeutung hat und ihm Sinn gibt, anstatt bloss über das, was sie mögen oder nicht mögen. Nicht Daumen hoch oder Daumen runter, sondern: Was berührt und tröstet mich? Was gibt meinem Leben Richtung und Ziel?

Die drei entwickeln die App, sie nennen sie «Why? – Warum?», aber buchstabieren es «WAI», und das steht für «We are infinite – wir sind unendlich.» Asha füttert das Programm mit allen möglichen und unmöglichen Informationen über jedes auch nur erdenkliche religiöse Ritual, das sie in der ethnologischen und religionswissenschaftlichen Literatur findet, aber auch in Filmen und Romanen etc. Im Ergebnis können Kund:innen bloss ein paar Fragen zu dem beantworten, was sie gut und schön finden, und mitteilen, wofür sie ein Ritual brauchen – die klassischen Übergänge Geburt, Erwachsenwerden, sich in Liebe verbinden, Abschied nehmen, aber auch andere biografische Übergänge. Der von Asha entwickelte Algorithmus berechnet daraus ein Ritual. Das ist teilweise einfach sehr komisch zu lesen, wenn irgendwelche Versatzstücke aus indianischem Schamanismus, von Sufi-Tänzen und der byzantinischen Liturgie fröhlich gemixt werden.

Zugleich hat mich das Buch sehr nachdenklich gemacht. Ich fand es eine hervorragende Darstellung einer Gesellschaft, in der die überlieferten Formen von Religion sich vollständig verflüchtigt haben. Wo noch Rückstände da sind, irritieren sie eher. Zugleich besteht aber doch eine Sehnsucht, es möchte etwas geben, was meinem Leben mehr Dichte und Gewicht gibt. Und als Leser bekomme ich etwas mit von der grandios-verzweifelten Selbstüberschätzung, wenn Menschen meinen, sie könnten das selbst basteln. Die Autorin lässt die App zu einem sofortigen Erfolg werden, der auch die mutigste Hoffnung von Asha übertrifft. Dass der Roman auch im Blick darauf spannend ist, wie unterschiedlich Asha und Cyrus dann in der IT-Branche wahrgenommen werden, und was das für Auswirkungen hat auf ihre Ehe, sei bloss angemerkt.

Beim Lesen sind mir Gespräche in den Sinn gekommen, die ich bei der Vorbereitung einer Abdankung und noch mehr bei einer Hochzeit geführt habe. Ich kann nicht mehr einfach davon ausgehen, dass wir einen Grundstock von gemeinsamen Vorstellungen darüber haben, was bei einer solchen Feier gesagt, welche Handlungen vollzogen werden sollen. Ich versuche, möglichst einladend davon zu reden, weshalb unsere biblischen und liturgischen Texte sich bewährt haben, welche Tiefe auch schlichte Gesten haben. Mein Ziel ist es, Menschen bei solchen Übergängen in den Raum zu locken, den die Bibel auftut. Denn ich bin überzeugt, dass es ein «heiliger Raum» ist: Gott ist darin gegenwärtig und lässt sich vernehmen.

Meine Dankbarkeit dafür verbindet sich mit der Trauer darüber, wie viele Menschen sich das entgehen lassen. Und meine grosse Frage ist: Wie können wir Menschen in diesen «heiligen Raum» locken, die nicht von sich aus kommen, weil sie sich bei uns melden bei der Geburt eines Kinds, bei der Feier ihrer Liebe oder beim Abschied von einer geliebten Person?

Beni Schubert

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