Durchblick erhalten
Betrachtungen von Beni Schubert
Der Seher Bileam ist die Hauptfigur in einer vergnüglichen und tiefsinnigen Erzählung innerhalb des langen Berichts über den Weg des Gottesvolks aus der Sklaverei in Ägypten in das versprochene Land; sie umfasst die Kapitel 22-24 im Buch Numeri / 4. Mose:
Auf seiner langen Wanderung zieht das Volk Israel durch das Gebiet der Moabiter. Deren König Balak macht sich Sorgen. Israel ist ihm zu gross und zu stark, deshalb will er sich ihm mit übernatürlichen Mitteln in den Weg stellen. Also beauftragt er Bileam, das Volk zu verfluchen; schliesslich hat Bileam einen direkten Draht zu Gott. (Von hier aus würde ich gerne einen Gedankengang zur Frage antreten, ob und wie Fluch- oder eben Segensworte eine Wirkkraft haben, doch in diesem Wort zur Woche verfolge ich ein anderes Ziel; deshalb beschränke ich mich darauf, sozusagen einen Wegweiser aufzustellen: In diese Richtung gäbe es Spannendes zu sehen und zu denken…)
Bileam nimmt den Auftrag an, will sich aber in der nächtlichen Stille noch bei Gott rückversichern, ob ein solcher Fluch den Plänen des Ewigen entspricht. Was er natürlich nicht tut; also erklärt Bileam dem König, er werde nicht kommen. Doch dieser erhöht den Einsatz, und Bileam lässt sich dazu verführen mitzugehen. Gott findet das aber wirklich keine gute Idee und schickt einen Engel, der sich Bileam in den Weg stellt. Den sieht der Seher jedoch nicht – nur der Esel kann ihn erkennen. Diese Szene ist wunderbar erzählt in Numeri 22, 22-35.
Schliesslich kommt Bileam bei Balak an. Der König meint: Zum Fluchen. Bileam kündigt aber an, er werde nur das sagen, was er von Gott her erkennen könne.
Der rituelle Akt wird aufwändig vorbereitet. Auf sieben Altären werden sieben Opfer dargebracht. Und dann segnet Bileam das Volk. Balak ist irritiert und alarmiert. Er Fordert Bileam auf, mit ihm an einen anderen Ort zu gehen, von dem aus er besseren Überblick habe und die Gefahr erkennen könne, die von Israel ausgehe. Doch erneut segnet Bileam Israel. Balak begreift, dass wohl nichts wird aus seinem Projekt mit einem vernichtenden Fluch; er fleht Bileam schliesslich an, wenigstens mit dem Segnen aufzuhören. Doch darauf kann und will Bileam nicht eingehen – und er proklamiert: «Es sagt Bileam, der Sohn Beors , es sagt der Mann, dem die Augen geöffnet sind; es sagt der Hörer göttlicher Rede, der des Allmächtigen Offenbarung sieht, dem die Augen geöffnet werden, wenn er niederkniet (24,3f).
Daran bin ich hängengeblieben, daran knüpfe ich an: Wir leben in einer von Bildern überfluteten Wirklichkeit. Filme aus den 1970er Jahren wirken auf uns bedächtig bis langweilig, weil wir uns an so rasche Bildschnitte gewöhnt haben. Plakatwerbung wird zunehmend durch kurze Videos ersetzt, weil wir ein stillstehendes Bild nicht mehr anschauen können. Wir sind gezwungen, eine ständig wachsende Menge von visuellen Informationen zu verarbeiten – doch sehen wir noch, was wesentlich ist? Können wir noch erkennen, worauf es wirklich ankommt?
Schon Bileam hat begriffen: Den Durchblick erlangte er nicht durch noch mehr Information, im Gegenteil. In der Stille der Nacht, im schweigenden Hinhören lerne ich zu unterscheiden, was wichtig und was nebensächlich ist. Wenn ich niederknie, also eine Haltung einnehme, aus der ich nicht sofort geschäftig aufspringen kann, erkenne ich, wo und wohin Gott sich und mich bewegt. Wenn ich die Augen schliesse, sehe ich klar.
Übrigens: Das Wort «Mystik» – und darunter verstehen wir alle jene Übungen und Haltungen, in denen Menschen sich Gott aussetzen, um von Gott ins rechte Licht gerückt zu werden – kommt vom griechischen Wort für «die Augen schliessen».
Beni Schubert